Bissera Dakova
Ein kurzes Lexikon des Orients
(oder über eine ungeäusserte Debatte zwischen Ivan Bogorov und Dobri Woinikov)
Zusammenfassung
Die Forschung strebt danach, die widersprüchliche Prozessualität bei der Postulierung des Eigenen zu veranschaulichen: die Etappen seiner Verschiedensprachigkeit, seiner polemischen Angespanntheit und Uneinigkeit. Die Nationalideologie ist keine Importkonstruktion, die eine leere Stelle besetzt, sondern sie erscheint eher als ein Ergebnis von der Transformation und der Beruhigung der vorherigen, vorgefundenen, existierenden Visionen des Selbsterkennens und –erlebens. Die Werte des Bulgarischen entfalten ihre Unbefestigtkeit, ihre Strittigkeit und erklärte Unentschlossenheit in einer Periode, über welche die Meinung verbreitet ist, dass sie ihre Werte eindeutig und axiomatisch legt und verwendet. Die nationale Weltanschauung ist die Frucht der umgedeuteten, neusemantisierten hiesigen Stereotype (D. Woinikov) oder, umgekehrt – die Frucht der überwundenen Vorurteile nach dem eurozentrischen/christlichen/slawischen Modell (Iv. Bogorov).
Nach der Übersetzung von „Die Janitschare“ und „Die Wunder von Robinson Crusoe“ (1849) geht Iv. Bogorov schon nicht mehr apologisch an, wenn er das Bulgarische beschreibt, sondern er denkt es kritisch um – durch das Prisma der Oppositionen Westen – Osten und Barbarei – Zivilisation, die die beiden übersetzten Texte strukturieren. Den Chaos, die Dezentralisation, die Uneinigkeit der „bulgarischen Orte“ erblickend, entdeckt Iv. Bogorov eigentlich den Orient in diesen Territorien, bemerkt ihn auf die Art und Weise, auf die er in „Die Janitschare“ anwesend ist: als eine Verkörperung des Janitschar-Fanatischen/ Vorsintflutlich-Rituellen/ Unkommunikativ-Verborgenen. Und die Zivilisation, die er in diesen Orten einsetzen wollte – vornehmlich als Komfort verstanden – wurde von „Die Wunder…“ entlehnt (persönliche Hygiene, funktionelle Hauseinrichtung, gesellschaftliches Leben, Unternehmungsgeist, die Regung nach „gezähmten“ Menschen und Dingen).
Die Personen in Woinikovs Komödie „Die falschverstandene Zivilisation“ (1871) scheinen bis zum grossem Grade bestimmt von Bogorovs kulturellen Visionen, die er in „Einige Tage Spaziergang durch die bulgarischen Orte“ (1868) mitteilt. Sie können als ihre personifizierte Entblößung wahrgenommen werden. Durch die naiv-pathetische Ablehnung der Ideen Bogorovs, und durch die mechanische Rückkehr deux ex machina in die „einfache“ Identität, legt Woinikov das National-Identische als einige und einzige Realität, der man nie entfliehen kann. Die Dominanten des bulgarischen Identitätskerns ähneln aber erstaunlich den überwiegenden Orientspezifiken, die Bogorov in „Einige Tage…“ fixiert. Bei Woinikov fungieren sie schon als ein erstarrtes Emblem des Bulgarischen. In dieser Hinsicht sind die fundamentalisierten Kategorien Orients (die weibliche Scheulichkeit und die Verdecktheit von der Welt, das verschlossene Haus, der Stillstand), die Bogorov durch die Übersetzung von „Die Janitscharete“ assimiliert, in Woinikovs Komödie als Mittelpunkt und grundlegend für die bulgarische Identität erkannt, während die typischen Laster des Orients (das Schnaps- und Tabakmißbrauchen) ent-schuldigt und im Licht des Komischen dargestellt worden sind.
Die Forschung versucht, die Konspektartigkeit des Lexikons nachahmend, einige Dominanzsymbole des Orients umzufassen, die positiv oder negativ von den beiden Verfassern interpretiert sind (natürlich nicht ohne Berufungen auf andere Texte der bulgarischen Wiedergeburt). Man geht vom Abstrakten aus (Scham, Haus, Weg) und richtet die Aufmerksamkeit nach der sachlichen Umwelt, weil die polemische Beziehung Woinikovs zum Bogorovs Reisebuch bei den symbolischen Gegenständen, wie z. B. die Nadel, der Schnaps, der Tabak, die Kleidung, am stärksten gespürt werden kann. Auch die konservative Ideologie, die „Die falschverstandene Zivilisation“ stützt und die eine travestiv-mißgestaltete Projektion der kulturellen Ansprüche Bogorovs auf die „bulgarischen Orte“ ist, zeichnet sich hier deutlich ab.